Ein normaler Mitarbeiter und ein anonymer Mitarbeiter geben Feedback

Von Nils Reisen am 04.06.2020 | 4 Minuten Lesezeit

Häufig wird folgendes Argument gebracht: Wenn die Umfrage nicht anonym ist, trauen sich die Mitarbeitenden nicht, die Wahrheit zu sagen. So gehen wichtige Informationen verloren. Stimmt das? Bei der Entwicklung von Pulse Feedback wollten wir dieser Frage empirisch auf den Grund gehen und haben dies in einem Experiment getestet.

Um diese Frage zu beantworten, haben wir in einem grossen Unternehmen eine Testumfrage zum Thema Mitarbeitenden-Engagement durchgeführt. Für unser Experiment wählten wir Paare von sehr ähnlichen Teams aus verschiedenen Bereichen des Unternehmens aus. Von jedem Paar wurde ein Team nach dem Zufallsprinzip einer von zwei Gruppen zugeordnet: 1) «anonymes Feedback» und 2) «offenes Feedback». Das andere Team wurde der jeweils verbleibenden Gruppe zugeordnet. Insgesamt wurden etwa 270 Mitarbeitende in 28 Teams zur Umfrage eingeladen.

Gruppe 1: anonymes Feedback

In dieser Gruppe waren die Feedbacks komplett anonym, wie auch bei der bisherigen Mitarbeitendenbefragung. Die Mitarbeitenden erhielten vor dem Start der Umfrage folgende Information:

Screenshot mit Text Deine Angaben werden vertraulich behandelt. Befragung und Auswertung werden von einem unabhängigen Marktforschungsinstitut durchgeführt, welche uns die Daten nur in anonymisierter Form zur Verfügung stellt.

Infoseite in der Gruppe «anonym» (effektive Darstellung im Experiment visuell anders, Unternehmensinformation entfernt)

Gruppe 2: offenes Feedback

Die Teilnehmenden dieser Gruppe wurden informiert, dass ihre Feedbacks im Team offen sichtbar sind und dass ihnen die Ergebnisse nach Abschluss der Umfrage zugeschickt werden.

Screenshot mit Text Mit Pulse wollen wir voneinander lernen. Das geht am besten, wenn alle dein Feedback sehen können: deine Bewertungen werden als Teamscores angezeigt, deine Kommentare mit deiner Teamzugehörigkeit. Mitglieder deines Teams sehen deine Kommentare zusätzlich mit deinem Namen und Foto.

Infoseite in der Gruppe «Pulse» (effektive Darstellung im Experiment visuell anders, Unternehmensinformation entfernt)

Die Resultate wurden jedem Team einzeln zugeschickt. Dabei wurden die Bewertungen der Teilnehmenden zu den einzelnen Fragen in Form von Teamscores* ausgewiesen. Zusätzlich wurden auch die Kommentare angezeigt, mit den jeweiligen Namen der Teammitglieder.



Ansicht eines Pulse Kommentars

Kommentardarstellung in der Gruppe «Pulse» (fiktive Daten, effektive Darstellung im Experiment visuell anders und ohne Foto)

Beide Gruppen wurden vor der Umfrage informiert, welches Feedback in welcher Form sichtbar ist. Natürlich wussten sie aber nicht, dass es zwei verschiedene Gruppen gab. Ausser der Sichtbarkeit der Ergebnisse gab es keinen Unterschied zwischen den Gruppen. Alle Teilnehmenden beantworteten 26 Fragen auf einer Skala von 1 (stimme nicht zu) bis 10 (stimme voll zu). Bei der ersten Frage gab es zwei Kommentarfelder: «Das gefällt mir» und «Das wünsche ich mir». Jetzt wurde es spannend: Gab es Unterschiede in den Antworttendenzen zwischen den beiden Gruppen?

Die abgegebenen Bewertungen waren kritischer, wenn das Feedback anonym war

Es gab tatsächlich einen Unterschied. Die Teilnehmenden der Gruppe «anonymes Feedback» gaben tendenziell kritischere Antworten, im Schnitt waren ihre Bewertungen einen halben Skalenpunkt tiefer als in der Gruppe «offenes Feedback». Die soziale Erwünschtheit und das Wissen, dass die Teammitglieder oder die Vorgesetzten die eigene Bewertung einsehen können, scheinen die Antworten der Mitarbeitenden zu beeinflussen.

Heisst das nun, dass anonyme Umfragen besser sind?

Wir sagen klar «nein». Denn: Vielleicht spiegeln die Bewertungen bei anonymen Umfragen die tatsächliche Beurteilung der Situation präziser wider, da der Effekt sozialer Erwünschtheit geringer ausgeprägt ist. Vielleicht sind die Bewertungen aber auch übertrieben kritisch, da die Mitarbeitenden strategisch antworten und über die kritischen Bewertungen Druck aufbauen möchten. Allgemein haben wir bei anonymen Befragungen auch häufig die Tendenz zum «Dampf ablassen», d. h. zu übertriebenen Darstellungen beobachtet. Um im Detail herauszufinden, welcher dieser Faktoren in welchem Mass für die kritischeren Bewertungen ausschlaggebend ist, sind weitere Studien nötig.

Viel wichtiger ist aber letztendlich, wie konkret mit den Ergebnissen gearbeitet wird. Die beobachteten Unterschiede sind zu gering, als dass man eine völlig andere Erkenntnis aus den Ergebnissen ziehen würde. Egal, ob eine Frage im Schnitt mit 6.5 oder mit 6 bewertet wurde, in jedem Fall besteht Verbesserungspotenzial und macht eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema nötig. Auf Basis der Bewertungen allein ist es sehr schwer, die Treiber für die Unzufriedenheit zu identifizieren. Nur mit offenem Feedback und vertiefenden Gesprächen zu den genannten Punkten gelingt es, die Ursachen hinter den Bewertungen zu verstehen, die richtigen Schlüsse zu ziehen und so auch die richtigen Hebel für die Verbesserung in Bewegung zu setzen. Dies haben wir übrigens im Detail schon an anderer Stelle beschrieben.

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In unserer Erfahrung muss sich eine konstruktive und offene Feedbackkultur erst entwickeln und das benötigt etwas Zeit. Wir haben diesen Test vor der allerersten Pulse Umfrage gemacht. Seitdem hat sich die Feedbackkultur in diesem Unternehmen stark weiter entwickelt (Details dazu gibt es bald in einem weiteren Artikel). Es kann also gut sein, dass der gleiche Test heute anders ausfallen würde.

*Der Score wird wie folgt berechnet: Die Bewertungen für jede Frage werden einer von drei möglichen Gruppen zugeordnet: Verbessern (1 bis 6), Neutral (7 & 8) und Weiter so (9 & 10). Der Score ergibt sich aus dem Anteil der Teilnehmenden in der Gruppe Weiter so minus dem Anteil der Teilnehmenden in der Gruppe Verbessern (die Ergebnisse werden ohne «%» dargestellt.) Der tiefstmögliche Score ist -100, der höchstmögliche +100.

Illustration mit einem Brief im offenen Couvert

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