Die heilige Kuh

Von Nils Reisen am 21.02.2020 | 6 Minuten Lesezeit

Das dachten wir auch. Die Anonymität war so etwas wie die heilige Kuh der Mitarbeitendenbefragungen. Doch dann kamen uns Zweifel: Führen anonyme Umfragen wirklich zu wertvollem Mitarbeitenden-Feedback? Können trotz Anonymität Verbesserungen umgesetzt werden, die allen im Unternehmen zugute kommen?

Bei Mitarbeitendenbefragungen wird die Anonymität der Teilnehmenden in der Regel nicht nur gewahrt, sondern von Anwender:innen und Anbieter:innen auch stark betont. Das Argument lautet in etwa so: Mitarbeitende werden nur dann ihre Meinung offen und ehrlich äussern, wenn sie keine negativen Konsequenzen fürchten. Die Anonymität verhindert diese Furcht.

Klingt logisch – dachten wir. Doch wir stellten schnell fest, dass die Anonymität bei Mitarbeitendenbefragungen nicht nur einige grundsätzliche Fragen aufwirft, sondern auch mehr Probleme schafft, als sie löst.

WikiLeaks oder Wikipedia?

Die Grundhaltung bei Mitarbeitendenbefragungen erinnerte uns an WikiLeaks. Eine Plattform, um unethisches Verhalten einzelner Akteure aufzudecken, bei der die Informanten (Whistleblower) anonym bleiben müssen, um nicht im Gefängnis zu landen. Aber ist eine Mitarbeitendenbefragung der richtige Ort für solche Eskalationen? Diese sind teilweise sicher nötig, machen aber die Minderheit der Probleme aus, die ein Unternehmen beschäftigen. Sind wir bereit, ein allgemeines Klima von Misstrauen und Angst in Kauf zu nehmen, nur um diese wenigen Fälle abzudecken? Und sollten diese nicht ohnehin anderweitig adressiert werden?

Mitarbeitendenbefragungen sollten doch viel mehr wie Wikipedia sein. Eine offene Plattform, in die alle ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbringen können, damit man voneinander lernen und gemeinsam vorankommen kann. Wäre das nicht viel wünschenswerter, als blind auf die heilige Kuh zu vertrauen?

Anonyme Befragungen sind wie eine Hexenjagd

Als wir uns in die Literatur zum Thema anonymes Feedback vertieften (z. B. Artikel im Harvard Business Review), merkten wir schnell, dass wir nicht die Einzigen waren, die diesen Ansatz in Frage stellten. Denn anonyme Mitarbeitendenbefragungen haben einige Nachteile. Zum Beispiel:

  • «Kill the messenger»: Mit einer anonymen Umfrage vermittelt das Unternehmen implizit, dass es gefährlich ist, seine Meinung offen kundzugeben und dass die Feedbackgebenden daher geschützt werden müssen (WikiLeaks).
  • «Hexenjagd»: Es wird versucht, die Verfasser:innen negativer Kommentare zu ermitteln, was oft dazu führt, dass andere Teammitglieder für Äusserungen verantwortlich gemacht werden, die sie nie getätigt haben.
  • Dampf ablassen: Die Anonymität ermutigt die Menschen, sich den Frust von der Seele zu schreiben und zu übertreiben. Solche Feedbacks bilden unserer Erfahrung nach nur selten Grundlage für praktische Verbesserungen.

Das sind doch ziemlich gute Argumente, oder? Wie sieht es denn mit offenem Feedback aus?

  • Katalysator für konstruktives Feedback: Wenn ich weiss, dass andere mein Feedback sehen können, werde ich überlegter vorgehen. Wie sollte ich mein Feedback formulieren, damit es für die Empfänger:innen möglichst wertvoll ist? Hier findest du Tipps zum Geben und Empfangen von konstruktivem Feedback.
  • Basis für Gespräche: Nur transparentes Feedback kann zu konstruktiven Gesprächen und damit letztlich zu konkreten Verbesserungen führen.
  • Gleiche Rechte für alle: Mitarbeitende und Führungskräfte können das Feedback der anderen einsehen. Dies verhindert ein mögliches Ungleichgewicht im Unternehmen, das dadurch entsteht, dass Gruppen die Kontrolle über Informationen nutzen, um mehr Einfluss zu gewinnen.

Die heilige Kuh und ein Metzger

Veränderung braucht einen konstruktiven Dialog

Für uns war klar: Anonymität ist nicht die Lösung. Die heilige Kuh war in Gefahr, wir wollten sie aber noch nicht gleich schlachten. Mit Pulse Feedback wollten wir eine Mitarbeitendenbefragung schaffen, bei der Feedback nicht einfach erhoben wird, sondern in erster Linie die Basis für sinnvolle und für alle Mitarbeitenden spürbare Verbesserungen ist. Dafür müssen die Rückmeldungen im Detail verstanden werden («Was sind die Ursachen für die abgegebenen Bewertungen?») und der jeweilige Kontext der betroffenen Teams bekannt sein.

Wer ist am besten in der Lage, die Feedbacks im Kontext zu bewerten, Ursachen zu identifizieren und sinnvolle Verbesserungen umzusetzen? Die Teams selbst. Damit wirksame Verbesserungen möglich sind, müssen die Feedbacks ergo für alle im Unternehmen verfügbar sein. Und zwar in einem Format, das eine weiterführende Diskussion ermöglicht.

Nicht alles muss transparent sein, damit Verbesserungen entstehen können

Uns war wichtig, dass auch teamübergreifend von den Feedbacks gelernt werden kann. Hier ist aber vor allem relevant, was gesagt wird und weniger von wem. Daher können die Kommentare von Kolleg:innen anderer Teams durchaus in anonymer Form angezeigt werden. Auch bei den Bewertungen wollten wir nicht gleich auf volle Transparenz setzen. Für die Diskussion ist in erster Linie die Gesamtsituation im Team relevant und nicht einzelne Bewertungen. Daher reicht es, wenn nur Teamscores ausgewiesen werden und keine einzelnen Bewertungen.

Diese Erkenntnisse führten uns zu einem einfachen Prinzip: Meine Teammitglieder sehen meine Kommentare mit meinem Namen, alle anderen in anonymer Form. Bewertungen werden nur als Teamscores angezeigt. Die heilige Kuh muss also nicht gleich geschlachtet, aber etwas in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. Jetzt hatten wir einen Plan und machten uns an die Umsetzung.

Argumente sind gut, konkrete Erfahrungen besser

Wenig überraschend hatten das Management, HR und die Personalvertretung etwas Respekt vor der Abkehr von der gewohnten Anonymität. Unsere Argumente oben waren für die Diskussion sehr hilfreich, wir konnten aber nicht beweisen, dass unser Ansatz funktioniert. «Für mich ist das kein Problem, aber bei anderen geht das wahrscheinlich nicht» hörten wir häufig. Die «anderen» waren je nach Gegenüber unterschiedlich, beispielsweise Mitarbeitende im Callcenter oder in der Produktion.

Da half nur eines: ausprobieren. Getreu unserem Hintergrund in Design-Thinking-Methoden spielten wir den gesamten Prozess in einer Serie von Pilottests mit 17 Teams durch, mit umfassenden persönlichen Debriefing-Sessions am Ende. Dies war sehr hilfreich für die konkrete Ausgestaltung von Tool und Methode und verhalf uns vor allem zu einer grundlegenden Erkenntnis: es funktioniert.

Die meisten Mitarbeitende begrüssten die neue Transparenz mit «Na endlich!»

Wir hatten die Idee mit der Transparenz mittlerweile ziemlich lieb gewonnen, aber es überraschte uns trotzdem, wie positiv unsere Kollegen den neuen Ansatz aufnahmen. Wir rannten offene Türen ein. «Na endlich!» hiess es oft von den strahlenden Kollegen und nicht wie befürchtet «Ohne mich!».

Die Rückmeldungen von über hundert Mitarbeitenden überzeugten aber nicht alle unsere Stakeholder vollends. Wir hätten die falschen Teams getestet, hiess es, und bekamen nun neue, «schwierige» Teams genannt, insgesamt 18 an der Zahl. Die Kriterien für die Nominierung dieser zusätzlichen Kollegen waren unklar. Wenig überraschend funktionierte es mit den «schwierigen» Teams genau gleich gut.

Jetzt waren alle an Bord und im Oktober 2016 ging es mit der ersten Umfrage los. Diese verlief sehr positiv und deckte sich eins zu eins mit den Erfahrungen aus den Piloten. Wir sind mittlerweile seit vielen Jahren mit Pulse Feedback in verschiedenen Firmen unterwegs. Unser Fazit ist sehr positiv.

Mitarbeitende können gut mit offenem Feedback umgehen

Bei unseren Kund:innen läuft die Einführung immer ohne Probleme. Natürlich ist es wichtig, dass man umfassend informiert, warum man den Weg der Transparenz gewählt hat und welches Ziel man verfolgt. Aber letztendlich können alle gut damit umgehen.

Und die heilige Kuh? Die hat einer konstruktiven Feedbackkultur Platz gemacht. Wir konnten einen interessanten Trend beobachten: Im Verlaufe der Zeit ging nicht nur die Teilnahmequote nach oben, sondern es schrieben auch immer mehr Mitarbeitende immer zahlreichere, längere und zunehmend kritischere Kommentare. Gleichzeitig wurde die Feedbackkultur im Unternehmen immer besser bewertet. Details dazu findet ihr in diesem Artikel.

Habt ihr Feedback oder Fragen zum Artikel oder zu Pulse Feedback? Möchtet ihr über zukünftige Artikel informiert werden? Dann kontaktiert uns unter team@start-pulse.com.

Illustration mit einem Brief im offenen Couvert

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