Mitarbeiterbefragungen müssen anonym sein, oder?!
Von Nils Reisen am 21.01.2025 | 3 Minuten Lesezeit

Anonymität ist so etwas wie die heilige Kuh von Mitarbeiterbefragungen. Doch ist sie wirklich unverzichtbar? Oder liegt der Schlüssel zum Erfolg nicht viel mehr in einem offeneren Ansatz?
Anonymität – ein zweischneidiges Schwert
In Mitarbeitendenbefragungen gilt Anonymität oft als entscheidend. Die Idee dahinter: Nur wer keine negativen Konsequenzen fürchten muss, gibt ehrliches Feedback.
Doch ein genauerer Blick zeigt, dass Anonymität nicht nur grundlegende Fragen aufwirft, sondern oft mehr Probleme schafft, als sie löst.
Denn anonyme Mitarbeiterbefragungen haben durchaus Nachteile:1
- «Kill the messenger»: Mit einer anonymen Umfrage kommuniziert das Unternehmen implizit, dass es gefährlich ist, offen seine Meinung zu sagen und dass die Feedbackgebenden daher geschützt werden müssen.
- «Hexenjagd»: Es wird versucht, die Verfasser:innen negativer Kommentare zu ermitteln, was oft dazu führt, dass andere Teammitglieder für Äusserungen verantwortlich gemacht werden, die sie nie getätigt haben.
- Dampf ablassen: Die Anonymität ermutigt die Menschen, Dampf abzulassen und übertriebene Schilderungen abzugeben. Solche Feedbacks bilden unserer Erfahrung nach nur selten Grundlage für wirksame Verbesserungen.
Anonyme Mitarbeitendenbefragungen erinnern ein wenig an WikiLeaks – eine Plattform, um unethisches Verhalten aufzudecken, bei der Whistleblower anonym bleiben müssen, um sich zu schützen. Doch ist eine Mitarbeiterbefragung wirklich der richtige Ort für solche Eskalationen?
Solche Fälle sind zwar relevant, machen aber nur eine kleine Minderheit der Probleme aus, die eine Organisation beschäftigen. Ist es also sinnvoll, ein generelles Klima des Misstrauens und der Angst in Kauf zu nehmen, nur um diese wenigen Fälle abzudecken? Und sollten sie nicht ohnehin auf anderen Wegen behandelt werden?
Der Vorteil von Transparenz
Mitarbeitendenbefragungen sollten eher wie Wikipedia funktionieren – eine offene Plattform, auf der alle ihr Wissen und ihre Erfahrungen teilen, um voneinander zu lernen und gemeinsam voranzukommen.
Transparenz ist …
- Katalysator für konstruktives Feedback: Wenn ich weiss, dass andere mein Feedback persönlich zuordnen können, wähle ich meine Worte sorgfältiger. Das bildet die Grundlage für konstruktives Feedback.
- Basis für wirkungsvolle Gespräche: Nur transparentes Feedback kann zu konstruktiven Gesprächen und damit letztlich zu konkreten Verbesserungen führen.
- Gleiche Rechte für alle: Mitarbeitende und Führungskräfte können das Feedback der anderen einsehen. Dies verhindert ein mögliches Ungleichgewicht im Unternehmen, das dadurch entsteht, dass einzelne Gruppen die Kontrolle über Informationen nutzen, um mehr Einfluss zu gewinnen.
Wäre das nicht sinnvoller, als blind an der heiligen Kuh der Anonymität festzuhalten?
Spürbare Verbesserungen entstehen, wenn alle mit dem Feedback arbeiten
Mitarbeitendenbefragungen sollen Verbesserungen anstossen. Dafür reicht es nicht, nur die Ergebnisse zu kennen – entscheidend ist, die Hintergründe zu verstehen: Was sind die Ursachen des Feedbacks? Welche Massnahmen sind sinnvoll?
Die Teams selbst wissen das oft besser als HR oder die Geschäftsleitung. Damit Veränderungen wirksam werden, muss das Feedback daher unternehmensweit zugänglich sein – in einem Format, das echte Diskussionen ermöglicht.

Transparenz ist nicht gleich vollständige Offenlegung
Die heilige Kuh muss jedoch nicht vollständig geschlachtet werden. Teamübergreifendes Lernen aus Feedback ist auch ohne vollständige Transparenz möglich. Mit anderen Worten: gewisse Sachen müssen sichtbar sein, andere nicht.
Unser Prinzip ist einfach:
- Bewertungen bleiben anonym und werden als Teamscores angezeigt.
- Kommentare sind für alle einsehbar, aber nur im eigenen Team mit Namen sichtbar.
So entsteht unternehmensweites Lernen, zielführende Teamdiskussionen und gleichzeitig ein gewisser Schutz der Privatsphäre. Nach Jahren der Erfahrung wissen wir: Dieser Mittelweg ist genau richtig.
Fazit: Veränderung braucht Mut
Zahlreiche Organisationen – von Banken und Versicherungen bis hin zu öffentlichen Verwaltungen und KMUs – setzen unseren Ansatz erfolgreich um. Entgegen den Befürchtungen reagieren die Mitarbeitenden mit «Na endlich!» statt «Ohne mich!».
Bei unseren Kund:innen hat die heilige Kuh einer konstruktiven Feedbackkultur Platz gemacht, die im Verlauf der Zeit immer besser wird: die Mitarbeitenden nehmen häufiger teil, schreiben mehr und längere Kommentare und geben zunehmend kritisches Feedback – auch wenn die allgemeine Zufriedenheit steigt und die Feedbackkultur besser bewertet wird.
Der Erfolg dieses Ansatzes zeigt sich nicht nur in höherer Beteiligung, sondern vor allem in einer nachhaltig verbesserten Unternehmenskultur und effizienteren Arbeitsprozessen. Echte Veränderung braucht echten Dialog – und der gelingt nur auf einer Grundlage von Transparenz.
Literatur
1Detert, J. R., & Burris, E. (2016, January/February). Can your employees really speak freely? Harvard Business Review. https://hbr.org/2016/01/can-your-employees-really-speak-freely