Grafik 2 Personen haben Fragen

Von Nils Reisen am 30.11.2022 | 5 Minuten Lesezeit

Steve war auf dem Weg zur Arbeit. Es war angenehm warm, eher ungewöhnlich für einen Oktobertag in der Schweiz. Normalerweise hat er gute Laune auf dem Weg ins Büro. Heute war es anders. Das für 9 Uhr geplante Meeting mit seiner Chefin Doris stand ihm bevor. Doris wollte ihm «etwas Feedback» geben. Wozu wusste er nicht, aber er hatte ein ungutes Gefühl.

Überrascht war Steve aber nicht. Sie hatten in der letzten Woche einige seltsame Begegnungen gehabt. Doris hatte zunehmend kritische Bemerkungen gemacht und ihm komische Blicke zugeworfen, die er nur schwer deuten konnte. Seit Doris das Treffen einberufen hatte, fiel es Steve schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.

Während er auf seinen Bus wartete, war er so unruhig, dass ihn sogar das Zwitschern der Vögel an diesem sonst so schönen Herbstmorgen störte.

Viel Lärm um nichts?

Als er den Raum betrat, sass Doris bereits an dem kleinen Tisch in der Mitte des Sitzungszimmers. Sie begrüsste ihn freundlich, ihr Anspannung war aber spürbar. Auch sie schien sich wegen der bevorstehenden Begegnung unwohl zu fühlen.

Nach einem etwas unbeholfenen Start fanden sie sich schnell in einer engagierten Diskussion wieder. Beiden wurde klar, dass die Hauptgründe für ihre gegenseitigen Irritationen Missverständnisse und falsche Annahmen waren. Das hatte zu einer Fülle von Theorien geführt, warum die andere Person sich so verhielt, wie sie es tat. Diese Theorien waren zwar logisch fundiert, basierten aber auf Annahmen, von denen die meisten schnell widerlegt werden konnten.

Diese Missverständnisse zu erkennen und ihre zugrundeliegenden Annahmen zu klären war für beide unangenehm. Sowohl Steve als auch Doris waren schockiert, wie wenig ihre Hypothesen mit der Realität übereinstimmten. Warum hatten sie so viel Zeit und geistigen Aufwand in Interpretationen investiert, die auf reinen Annahmen beruhten? Schlimmer noch: Beide führten das Verhalten des/der anderen auf negative Absichten zurück – und nicht auf fehlende Informationen, Missverständnisse oder falsche Vermutungen.

Steve und Doris waren ziemlich erleichtert, als sie ihre Annahmen geklärt und die Gründe für ihr Verhalten, ihre Motivationen und Ziele miteinander geteilt hatten. Das Meeting war ursprünglich für 30 Minuten angesetzt, dauerte aber über drei Stunden. Am Ende hatten beide ihre Meinung über die andere Person komplett revidiert und waren etwas enttäuscht von sich selbst, weil sie voreilige Schlüsse gezogen hatten. Nun waren sie bereit für einen Neubeginn der Zusammenarbeit und verliessen den Meetingraum voller Euphorie.

Was war geschehen?

Wie war es möglich, dass in so kurzer Zeit so viele Missverständnisse und falsche Annahmen entstehen konnten? Was hatten sie getan? Die Antwort ist einfach: nichts. Und genau das war das Problem.

Als Steve und Doris vor ein paar Monaten mit ihrer Zusammenarbeit begonnen hatten, diskutierten sie ihre Ziele, tauschten Informationen aus und hinterfragten Annahmen. Sie waren perfekt abgestimmt.

Steve fand sich in seiner neuen Rolle immer besser zurecht und meldete sich seltener bei Doris. Doris wiederum gewann Vertrauen in Steve, und ihr Bedarf an aktuellen Informationen ging zurück. In der Zwischenzeit veränderte sich die Welt um sie herum jedoch langsam aber sicher, und diese Veränderungen hatten einen grossen Einfluss auf sie und ihre Arbeit.

Die Darstellung unten zeigt, wie sich Steve und Doris im Laufe der Zeit in verschiedene Richtungen entwickelten. Mit jedem Ereignis, das in ihrem Arbeitsleben passierte (z. B. wenn neue Informationen verfügbar waren oder das Ergebnis einer Entscheidung bekannt wurde), verschoben sich ihre Pfade – ihre Sicht auf ihre Umwelt – allmählich zur einen oder anderen Seite. Während sie ihren Weg zurücklegten, konstruierten sie jeweils eine neue Realität für sich.

Während sie zu Beginn ihrer Zusammenarbeit vollständig abgestimmt waren, hatten sich ihre Wege ein paar Monate später deutlich auseinander bewegt. Die Fläche zwischen den Linien zeigt die zunehmende Ineffizienz.

Zonen effektiver zusammenarbeit bei Problemen

Abbildung 1: Abstimmung nur nach dem Auftreten von Problemen: grosse Ineffizienz


Es fiel ihnen zunehmend schwerer, das Verhalten der anderen Person einzuordnen. Aus ihrer jeweiligen Sicht erschien es ihnen falsch, seltsam oder ineffizient. Deutlich wurde dies, als Probleme entstanden: Steve gab den Kund:innen falsche Informationen, Doris schien sich zu widersprechen und traf Entscheidungen, die nicht mit den Zielen des Teams vereinbar waren.

Es kostete viel Zeit, Ursachen zu identifizieren und die Probleme zu beheben. Wie auch das dreistündige Treffen, das nötig war, um die Zusammenarbeit – und ihre Beziehung – wieder in freundlichere Gefilde zu bringen. Kaum vorzustellen, was aus ihrer Zusammenarbeit und Beziehung geworden wäre, wenn dieses Gespräch Monate später oder gar nicht stattgefunden hätte. Die gute Nachricht: Man kann dafür sorgen, dass solche Probleme gar nicht erst auftreten.

Wie kann man das vermeiden?

Steve und Doris sind fiktive Figuren, deren Geschichte ich aber schon oft in der Realität beobachtet habe. Und vielleicht passiert das Gleiche auch gerade in deinem Unternehmen.

Um solche Situationen zu vermeiden bedarf es einer laufenden Abstimmung: zu unseren neuesten Erkenntnissen, Ideen, Plänen und dem allgemeinen Verständnis unserer Arbeit. Je früher man merkt, dass sich die Pfade voneinander entfernt haben, desto leichter kann man den Kurs korrigieren. Und je schneller man wieder zueinander findet, desto geringer ist die Ineffizienz.

Abbild Zonen effektiver Zusammenarbeit

Abbildung 2: Häufige Abstimmung: weniger Probleme und Ineffizienzen


Klingt einfach, oder? Ich verbringe alle vier Monate ein oder zwei Stunden mit jeder und jedem aus meinem Team, um Feedback zu geben, zu erhalten und unsere Pfade abzugleichen. Das mag nach viel Zeit klingen. Aber in Anbetracht der enorm positiven Auswirkungen und der Vermeidung von viel zeitaufwändigeren Problemen wie in der Geschichte von Steve und Doris lohnt es sich ungemein. Mit anderen Worten: Sich Zeit für Feedback zu nehmen, sind nicht unnötige Kosten sondern eine Investition, mit der man langfristig Zeit spart.

Ausserdem wirkt sich ein regelmässiger Abgleich positiv auf unsere Beziehungen, unsere Motivation und vor allem auch auf unsere Leistung aus, weil wir unsere Zusammenarbeit laufend überdenken und an die aktuelle Situation anpassen.

Bitte zu Hause ausprobieren

Ähnliche Muster lassen sich übrigens auch in privaten Beziehungen beobachten: Es kommt häufig vor, dass sich Partner im Laufe der Zeit in unterschiedliche Richtungen entwickeln, ohne es zu merken.

Arbeit, Hobbys und Kinder beeinflussen, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen und unser Leben gestalten. Wir ändern laufend unsere Verhaltensweisen, unsere Glaubenssätze und unsere Überzeugungen. Wenn Partner sich nicht kontinuierlich über ihre Erfahrungen, Werte, Sorgen und Ziele austauschen, kann es gut sein, dass sie eines Morgens aufwachen und sich plötzlich fragen, wer wohl die Person ist, die da neben ihnen liegt.

Auch hier ist ein ständiger Austausch wichtig: darüber, was uns wichtig ist, wie wir die Geschehnisse in unserem Leben interpretieren und was uns aktuell glücklich, optimistisch, traurig oder Angst macht. Wenn man offen kommuniziert und genau zuhört, kann man ständig neue Dinge über den eigenen Partner und sich selbst entdecken. Und man kann sich am Zwitschern der Vögel erfreuen (und ihnen dabei zuzuhören, wie sie miteinander kommunizieren).

Illustration mit einem Brief im offenen Couvert

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