grafik frustration jahresgespräche

Von Nils Reisen am 02.03.2023 | 7 Minuten Lesezeit

Was wäre, wenn Jahresgespräche weniger Frust verursachen würden? Wenn Mitarbeitende und Vorgesetzte sogar Freude daran hätten?

Leistungsbeurteilungen und Performance Management allgemein sind extrem wichtig für Organisationen, Mitarbeitende und Führungskräfte. Aber es scheint, dass etwas grundlegend kaputt ist an der Art, wie sie heute durchgeführt werden. Dabei wäre es gar nicht so schwierig, hier Abhilfe zu schaffen.

Hier erfahrt ihr mehr zu den Problemen von Jahresgesprächen, mangelndem Feedback in Organisationen und möglichen Lösungsansätzen für wertstiftendes Performance Management.

An einem Dezembertag im Jahre 2014 machte ich mich gut gelaunt und optimistisch auf zu meinem Jahresgespräch. Ich hatte Spass an meiner Arbeit und eine gute Beziehung zu meinem Vorgesetzten. Das Gespräch verlief erwartungsgemäss angenehm und ich ging an dem Tag zufrieden nach Hause.

Meine Leistung im vergangenen Jahr schien mir gut und ich hatte im Gespräch auch nichts Gegenteiliges erfahren. Nach ein paar Tagen bekam ich dann eine Information vom damals verwendeten Performance Management-Tool, dass meine Bewertungen nun vollständig und der Prozess abgeschlossen sei. Dieses Tool hätten wir auch während des Gesprächs bedienen sollen. Es war aber umständlich in der Nutzung und gab einen starren Ablauf vor, so dass mein Chef schon im Vorfeld ankündigte: «Erst reden wir, dann machen wir das Tool glücklich.» So war es dann auch. Wir unterhielten uns eine Stunde lang.

Zurück zum Tool. «Abgeschlossen» klang gut, die Bewertungen, die ich dort vorfand, allerdings weniger. Meine Leistung wurde lediglich als durchschnittlich eingestuft: eine 3 auf einer 5er-Skala. Dies stand in starkem Kontrast zu meiner Selbsteinschätzung und auch zu dem, wie ich das Gespräch erlebt hatte: viel Lob, kaum kritisches Feedback.

Ich sprach meinen Vorgesetzten darauf an. Er zeigte sich überrascht. Er hätte mir das doch klar kommuniziert im Gespräch und die Einschätzung sei gerechtfertigt, auch im Vergleich mit den Kolleg:innen im Team.

Was war hier schief gelaufen?

Wie konnte es sein, dass ich mich selbst so falsch eingeschätzt hatte? Und: Hatte ich mich überhaupt falsch eingeschätzt? Rückblickend betrachtet schienen folgende Faktoren eine Rolle zu spielen:

  • Kein kontinuierliches Feedback: Ich erhielt wenig bis kein Feedback ausserhalb des Jahresgesprächs. Und wenn, dann war es häufig positiv. Die Abweichung zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung war für mich so unsichtbar.

  • Mangelnde Feedbackkompetenzen: Mein Vorgesetzter sendete das Feedback im Gespräch entweder nicht gut oder ich konnte es nicht richtig aufnehmen. Wahrscheinlich sogar beides. Gut Feedback zu geben und zu nehmen ist nicht einfach und wahrscheinlich sind wir beide daran gescheitert.

  • Verteilung von Bewertungen: Zusätzlich zum Gespräch und mündlichen Feedback erforderte der Prozess eine Bewertung. Das ist für mich per se kein No-Go. Problematisch war hier aus meiner Sicht jedoch, dass die Bewertung zwingend im Vergleich mit den Teamkolleg:innen erfolgen und eine bestimmte Verteilung resultieren musste. In der Realität – und gerade bei kleinen Teams – sind Leistungen und Kompetenzen nicht normalverteilt. Aus diesem und weiteren Gründen finde ich diese Praxis fragwürdig.

Es stimmte schon, dass es Verbesserungspotenzial gab. In gewissen Bereichen hatte ich die Komplexität der Aufgaben unterschätzt oder schlicht zu wenig Erfahrung. Ich hatte aber auch vieles gut gemacht, was mir durch Feedback von Kolleg:innen aus anderen Teams gespiegelt wurde.

Mir war es wichtig, gute Arbeit zu leisten und mich laufend zu verbessern. Häufigeres konstruktives Feedback hätte mich schneller auf den richtigen Weg gebracht. Und mir eine Menge Frust erspart.

Jahresgespräche sind häufig frustrierend

Mein Erlebnis ist keine Ausnahme. Eine Studie des Bildungsspiegels fand beispielsweise 2016, dass für ganze 58 % der befragten Mitarbeitenden herkömmliche Leistungsbeurteilungen eine «negative Erfahrung» darstellen. Und nur 39 % der Führungskräfte glauben, dass Leistungsbeurteilungen, wie sie gerade durchgeführt werden, zur Verbesserung der Geschäftsergebnisse beitragen.

Firmen wie General Electric und Adobe haben daher Jahresgespräche, Bewertungen und Rankings abgeschafft und durch kontinuierliches und zukunftsorientiertes Feedback ersetzt (Ewenstein et al., 2016).

Ist das eine gute Lösung? Sollte man Jahresgespräche einfach abschaffen? Vielleicht. Aber nicht zwingend.

Warum ist das so?

Sie finden zu selten statt
Ein häufig genannter Punkt ist, dass Jahresgespräche zu selten stattfinden. Die Welt dreht sich heute schneller und ist komplexer geworden. Eine Questback-Studie (2015) fand heraus, dass die Mehrheit der befragten Unternehmen lediglich jährliche Leistungsbeurteilungen (48 %) oder sogar nur alle 2 Jahre (42 %) Feedback-Runden durchführen. Insbesondere wenn Feedback in erster Linie an Jahresgesprächen gegeben wird, ist diese Taktung problematisch.

Sie werden von Personen durchgeführt, welche die betreffenden Mitarbeitenden nicht richtig beurteilen können
Ebenfalls häufiger thematisiert wird die Tatsache, dass die Linienvorgesetzten teilweise zu wenig direkten Kontakt mit den Mitarbeitenden haben und diese somit gar nicht richtig beurteilen können. In diesen Fällen werden die Gespräche häufig als ungerecht wahrgenommen (Personio). Dies war eines der Gründe, warum wir bei Creaholic unser Performance Management grundlegend überarbeitet haben.

Erschwerend hinzu kommt, dass konstruktives Feedback zu geben eine Kompetenz ist, die erlernt werden muss. Laut einer Studie von RainmakerThinking (Tulgan, 2019) haben 90 % aller Führungskräfte nicht ausreichend Gelegenheit, sich in den Grundlagen von Führung weiterzubilden.

Sie sind zu mechanistisch
Leistungsbeurteilungen werden häufig standardisiert und mithilfe von Softwaretools durchgeführt. Das ist berechtigt, denn so kann man dafür sorgen, dass das Mitarbeitendenerlebnis über alle Führungskräfte hinweg ähnlich ist, die richtigen Dinge beurteilt werden und die Bewertungen vergleichbar sind.

Diese Tools schaffen aber auch eine künstliche Situation und legen den Fokus stärker auf den Prozess als dies für wertvolle Gespräche nötig oder dienlich wäre. Problematisch ist es insbesondere, wenn quantitative Vergleiche gezogen werden müssen (s. o.) oder – noch schlimmer aber glücklicherweise immer weniger verbreitet – eine Rangordnung (bekannt u. a. als Forced Ranking) der Mitarbeitenden gemacht wird.

Zu starre Abläufe lassen auch Persönlichkeitsunterschiede ausser Acht. Menschen sind zu unterschiedlich für eine einheitliche Durchführung von solch wichtigen Gesprächen.

Also doch? Jahresgespräche abschaffen?

Vielleicht. Aber nicht zwingend.

Jahresgespräche haben viele wichtige Vorteile und Funktionen:

  • Sie sind ein gutes Format für individuelle und firmenweite Vereinbarung von Zielen und Beiträgen
  • Sie ermöglichen das Geben und Erfahren von positivem Feedback und Wertschätzung
  • Sie geben Raum für eine Reflexion zu Leistung und Entwicklung sowie einen Austausch zu Bedürfnissen, Wünschen und Hoffnungen – auf einer anderen Flughöhe als bei der täglichen Arbeit
  • Sie helfen Organisationen, Mitarbeitenden und Führungskräfte gezielt einzusetzen, zu entwickeln und Talente zu fördern
  • Sie ermöglichen eine Standardisierung in der Gesprächsführung und Bewertung der Mitarbeitenden
Illustration über Selbstreflektion mit Feedback

Wenn man Jahresgespräche aufgibt, müssen deren Funktionen durch andere Massnahmen gewährleistet werden. Wie man das konkret am besten umsetzt, ist von Organisation zu Organisation unterschiedlich.

Im Kern sollte aber immer das Ziel verfolgt werden, Menschen dabei zu unterstützen, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und eigenverantwortlich ihre Arbeit und ihre Zukunft zu gestalten.

Egal ob mit oder ohne Jahresgespräch: Wichtig ist es, Ziele und Feedback zu institutionalisieren

Die aus meiner Sicht zentralen Komponenten für kompetente, engagierte und zufriedene Mitarbeitende und Führungskräfte sind klar definierte, verbindliche Ziele und kontinuierliches Feedback.

Mit Zielen legen wir fest, wohin die Reise geht
Mit den Zielen wird definiert, was man erreichen möchte und welchen Beitrag man zum Erfolg des Teams, des Bereiches oder der Organisation leistet. Bei Creaholic unterscheiden wir zwei Arten von Zielen: WHAT und HOW.

WHAT-Ziele beschreiben die Wirkung für die Organisation, die wir mit unserer Arbeit erreichen möchte. Dies sind Dinge wie den Umsatz zu steigern, ein neues Produkt zu entwickeln oder die berufliche Entwicklung im Unternehmen zu fördern.

Mit HOW-Zielen legen wir fest, welche Fähigkeiten wir entwickeln möchten, beispielsweise unsere Verkaufskompetenzen steigern oder unsere Expertise im Fachgebiet zu vertiefen.

Bei Creaholic setzen wir unsere Ziele mit der Methode Objectives and Key Results und prüfen diese quartalsweise. Das hat uns extrem dabei geholfen, einen Fokus zu setzen, diesen zu wahren und uns in den Teams abzustimmen.

Feedback gibt uns Energie und einen Kompass für die Reise
Positives Feedback ist wie der Strom für unser Elektroauto. Kritisches Feedback ist das Navigationssystem, das uns hilft, Abweichungen vom Kurs zu identifizieren und Korrekturen vorzunehmen.

Fazit

Jahresgespräche haben in diesem Vorgehen einen Platz, sind aber kein Muss. Jede Organisation muss ihr eigenes System finden, das mit ihrer Kultur, ihren Strukturen und ihren Zielen kompatibel ist.

Bei Creaholic gibt es nach wie vor Jahresgespräche, wir haben aber vor einigen Jahren neben OKRs auch die Funktion der Peers eingeführt, welche kontinuierlich Feedback geben und uns durch das Jahr begleiten.

Dank dieser Interventionen machen meine Jahresgespräche wieder Spass und bringen mich weiter. Überraschungen gibt es dank unserer konstruktiven und intensiv gelebten Feedbackkultur nie.

Mehr dazu, wie wir bei Creaholic vorgegangen sind, erfahrt ihr in diesem Artikel. Wenn ihr wissen möchtet, wie ihr bei euch für bessere Jahresgespräche und eine konstruktive Feedbackkultur sorgen könnt, meldet euch bei uns.

Literatur

Bildungsspiegel (2016). Studie: Leistungsbewertung noch zeitgemäss?
Ewenstein, B., Hancock, B. & Komm, A. (2016). Ahead of the curve: The future of performance management. McKinsey Quarterly, 2, 64-73.
Personio. Leistungsbeurteilung: Was Mitarbeiter demotiviert.

Illustration mit einem Brief im offenen Couvert

Abonniere unseren Newsletter

Empfohlene Artikel